Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die medizinische Ausbildung in der Schweiz

Ärzteschaft Publiziert 10/12/2025

Das Schweizer Medizinstudium gilt weltweit als eines der anspruchsvollsten und qualitativ besten. Lange Zeit war es geprägt von dicken Lehrbüchern, Frontalunterricht und der klassischen Arbeit am Präpariertisch. Doch wer heute durch die medizinischen Fakultäten von Zürich, Bern, Basel oder Lausanne läuft, sieht einen fundamentalen Wandel. Die Digitalisierung ist nicht mehr nur ein "Add-on", sondern verändert die DNA der medizinischen Ausbildung – von der Anatomie bis zum Staatsexamen.

Dieser Wandel wird getrieben durch technologische Innovationen, aber auch durch den neuen Schweizer Lernzielkatalog PROFILES, der die "Digital Literacy" (digitale Kompetenz) in den Fokus rückt.

1. Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR): Anatomie 2.0

Jahrhundertelang war die Sektion von Körperspenden der einzige Weg, die komplexe menschliche Anatomie zu begreifen. Dies bleibt ein essenzieller Bestandteil, wird aber zunehmend digital erweitert.

Mit Virtual Reality (VR) können Studierende heute in den menschlichen Körper "eintauchen". Sie können Organe im 3D-Raum drehen, Schicht für Schicht Muskeln abtragen oder den Blutfluss im Herzen simulieren. Augmented Reality (AR)-Anwendungen ermöglichen es, virtuelle Informationen über physische Modelle zu legen. Das Ergebnis ist ein tieferes räumliches Verständnis, das mit 2D-Abbildungen in Büchern kaum zu erreichen ist. Schweizer Universitäten investieren massiv in solche "Skills Labs", um die Theorie greifbarer zu machen.

2. Simulation statt "Learning by Doing" am Patienten

Die Patientensicherheit steht in der Schweiz an oberster Stelle. Deshalb verlagert sich das Üben kritischer Situationen vom Krankenbett in hochmoderne Simulationszentren.

An computergesteuerten High-Fidelity-Puppen üben angehende Ärzte Notfallsituationen – vom Herzinfarkt bis zur komplizierten Geburt. Diese Simulatoren reagieren physiologisch korrekt auf Medikamentengaben oder Eingriffe. Der digitale Vorteil: Jede Handbewegung wird aufgezeichnet. Im anschliessenden "Debriefing" können die Studierenden ihre Leistung anhand von Videodaten analysieren. Fehler, die im Simulator gemacht werden, retten später im echten Leben Patienten.

3. PROFILES: Der digitale Arzt als Lernziel

Die Schweiz hat mit der Reform des Medizinalberufegesetzes und dem Lernzielkatalog PROFILES (Principal Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland) auf die neuen Anforderungen reagiert.

Es geht nicht mehr nur um das Auswendiglernen von Fakten ("Wissen"), sondern um Kompetenzen ("Können"). Ein zentraler Pfeiler ist die Fähigkeit, digitale Technologien nicht nur zu nutzen, sondern auch zu verstehen.

Datenmanagement: Wie gehe ich sicher mit elektronischen Patientendossiers (EPD) um?

Kritische Einordnung: Wie bewerte ich Gesundheits-Apps, die meine Patienten nutzen?

Telemedizin: Wie führe ich eine Anamnese per Video-Call durch?

Diese Skills sind heute prüfungsrelevant für das Eidgenössische Staatsexamen.

4. Künstliche Intelligenz als neuer "Kollege"

Die wohl grösste Veränderung steht noch bevor: Die Integration von KI in den Lehrplan. Medizinstudierende müssen lernen, wie Algorithmen in der Diagnostik funktionieren.

Künftige Ärzte müssen verstehen, wie eine KI eine Diagnose (z.B. auf einem Röntgenbild) vorschlägt, wo die Grenzen der Technologie liegen und wie sie diese Ergebnisse ethisch und fachlich validieren. Die Ausbildung wandelt sich von der reinen Wissensvermittlung hin zur Dateninterpretation. Der Arzt der Zukunft ist auch ein Daten-Manager, der KI als "Second Opinion" nutzt.

Fazit: Hybrid ist die Zukunft

Ersetzt die Digitalisierung den Professor oder das Gespräch am Krankenbett? Nein. Die Schweizer medizinische Ausbildung steuert auf ein hybrides Modell zu. Digitale Tools (E-Learning, VR, Simulation) übernehmen die Vermittlung von Fakten und technischen Fertigkeiten. Das schafft im Idealfall mehr Raum für das, was keine App ersetzen kann: Die Ausbildung in Empathie, Kommunikation und der ärztlichen Haltung. Denn auch im digitalen Zeitalter bleibt die Medizin eine Wissenschaft vom Menschen.